Faire Preise, Umwelt- und Tierschutz: Ist der Artikel 210a ein Hoffnungsschimmer?

Die hohe Marktkonzentration im Lebensmitteleinzelhandel baut starken Druck auf Preise und Margen in der Landwirtschaft auf. Gleichzeitig entstehen in der deutschen Landwirtschaft Umweltkosten in Höhe von rund 90 Milliarden Euro jährlich. Kranke Tiere, Seuchen und Tierleid sowie der starke Einsatz von Antibiotika sind große Probleme. So die Boston Consulting Group. Was kann der Staat tun? Das Spektrum reicht von Steuern, Abgaben und Subventionen über Ge- und Verbote bis hin zum Kartellrecht. Ein Hoffnungsschimmer ist aktuell für Erzeuger*in­nen der neue Artikel 210a der Gemeinsamen Markt-organisation (GMO), der seit dem 6. Dezember 2021 in Kraft ist. Ende 2023 will die EU-Kommission Leitlinien dazu veröffent-lichen. Für Erzeuger*innen ist wichtig, dass sie mögliche steigende Betriebs- und Mehrkosten für Umwelt- und Tierschutz über höhere Erzeugerpreise abdecken und an die Käufer*innen entlang der Wertschöpfungs-kette weitergeben können. Die Frage ist also, welche Chancen der Artikel 210a birgt und wie er zu bewerten ist.

Was steht im Artikel 210a?

Die Gesetzgeber wollen mit dem Artikel 210a der Gemeinsamen Marktorganisation (GMO) Anreize für eine „weitgehende Annahme“ von übergesetzlichen Nachhaltigkeitsstandards in der Lebensmittelversor-gungskette setzen. Diese werden aus dem Anwendungsbereich des Kartellverbots nach Art. 101 AEUV ausgenommen. Wettbewerbsbeschränkungen sind lediglich zulässig, wenn sie für das Erreichen des Nachhaltigkeitsstandards „unerlässlich“ sind. Die Ausnahmeregelung können all jene in Anspruch nehmen, deren Standards zu einen oder mehreren Umweltzielen- und Tierschutzzielen „beitragen“, inklusive:

  • Klimaschutz und Anpassung an den Klimawandel
  • nachhaltige Nutzung und Schutz von Landschaften, Wasser und Böden
  • Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, einschließlich der Verringerung von Lebensmittelverschwendung
  • Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmutzung
  • Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme
  • Produktionsweisen, die den Einsatz von Pestiziden verringern und die daraus entstehenden Risiken beherrschen
  • Verringerung der Gefahr einer Resistenz gegen antimikrobielle Wirkstoffe
  • Tiergesundheit und Tierwohl

Der Artikel 210a deckt potenziell jegliche Form von Vereinbarungen entlang der ganzen Lebensmittel-kette ab. Voraussetzung ist, dass mindestens ein landwirtschaftlicher Erzeuger oder eine Vereinigung von Erzeuger*innen an den Verhandlungen, der Verabschiedung und der Umsetzung der Nachhaltigkeits-vereinbarung beteiligt ist. Der Anwendungsbereich erstreckt sich auf landwirtschaftliche Erzeugnisse, die im Anhang I des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union aufgeführt sind. Es ist dabei unerheblich, ob die Parteien einer Nachhaltig­keitsvereinbarung innerhalb oder außerhalb der EU ansässig sind, solange die Nachhaltigkeitsvereinbarung innerhalb der EU umgesetzt wird oder den Wettbewerb im Binnenmarkt beeinträchtigen könnte.

Wie ist der Artikel 210a aus Nachhaltigkeitsperspektive zu bewerten?

Der Begriff der Nachhaltigkeit umfasst die soziale, ökologische und wirtschaftliche Dimension der Nachhaltigkeit. Auffällig ist, dass mit dem Artikel 210a kein ganzheitlicher Ansatz verfolgt wird, denn es geht gemäß Artikel 210a Absatz 3 nur um Umwelt- und Tierschutzziele. Im Leitlinien-Entwurf der EU-Kommission wird dies bestätigt. Dort steht: Wenn gesellschaftliche Ziele (z. B. Arbeitsbedingungen) oder wirtschaftliche Ziele (z. B. angemessenere Vergütung der Landwirte) verfolgt werden, können diese für die Prüfung nicht herangezogen werden. Dies schließt aber umgekehrt nicht aus, dass auch soziale und wirtschaft­liche Ziele Teil einer Nachhaltigkeitsvereinbarung sein können, wenn sie kartellrechtlich zulässig sind und die fünf Ziele der gemeinsamen Agrarpolitik nicht gefährden (Artikel 39 AEUV).

Die Nachhaltigkeitsstandards müssen zu „konkreten und messbaren“ Ergebnissen führen oder, sofern das nicht möglich ist, zu Ergebnissen, die „sichtbar und beschreibbar“ sind. Unter den Artikel 210a könnten beispielsweise Initiativen fallen, die eine Umstellung auf ökologischen Landbau fördern, den Pestizid-einsatz um 60 Prozent oder die Lebensmittelverschwendung um 50 Prozent reduzieren. Voraussetzung ist nämlich, dass der angestrebte Nachhaltigkeitsstandard eine Verbesserung gegenüber dem durch Unionsrecht oder nationalem Recht vorge­schriebenen Standard darstellt. Je geringer die Verbesserung, desto weniger wahrscheinlich ist es, dass eine Kooperation zwischen Wirtschaftsakteuren notwendig ist oder dass die Wettbewerbsbeschränkungen „schwerwiegend“ sein müssen. Inwieweit wirklich eine „deutliche“ Verbesserung gegenüber dem gesetzlichen Standard vorausgesetzt wird oder ob die Bestimmungen nach kartellrechtlicher Prüfung anerkannt werden würden, bleibt noch ziemlich unklar.

Wie ist der Artikel 210a aus Kartellrechtsperspektive zu bewerten?

Der Artikel 210a stellt nicht die erste kartellrechtliche Ausnahme in der GMO dar. Mit Artikel 149 GMO wird beispielsweise einer Erzeugerorganisation erlaubt, Verträge auszuhandeln, die bis zu 33 Prozent der gesamten in einem Mitgliedsstaat erzeugten und gelieferten Rohmilchmenge abdecken. Oder Artikel 172a GMO zu Wertaufteilungsklauseln, welche eine Verteilung des Ertrags entlang der Produktions- und Lieferkette regeln können. Dennoch sehen Kartellrechtler*innen die neue Regelung kritisch, weil sie eine generelle Bereichsaus­nahme befürchten. Es würde nicht mehr im Einzelfall der Ausgleich zwischen Wett-bewerbs- und Nachhaltigkeits­erwägungen gesucht werden. Die Formulierung des Artikels 210a mag diese Sorge teilweise begründen, der Leitlinien-Entwurf der EU-Kommission betont hingegen die Bewertung der „Einzelfallumstände“. Er lässt zudem eine strikte – potenziell zu restriktive – Auslegung der „Unerläss-lichkeit“ der Wettbewerbsbeschränkung vermuten. Eine Wettbewerbsbeschränkung kann unerlässlich sein, um den Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen, und trotzdem den Wettbewerb ausschließen, erklärt die Kommission. Der Ausschluss des Wettbewerbs müsste „ausreichend schwerwiegend“ sein, um die Tat-sache, dass die Nachhaltigkeitsvereinbarung die Kriterien der Unerlässlichkeitsprüfung nach Artikel 210a Absatz 1 erfüllt, außer Kraft zu setzen. „Es kann jedoch nicht sein, dass jede Wettbewerbsbeschränkung notwendigerweise auch den Wettbewerb ausschließt. Andernfalls wäre die Ausnahmeregelung aus Artikel 210a Absatz 1 wertlos.“ Das Spannungsfeld wird hier sehr zutreffend beschrieben.

Der „Unerlässlichkeits-Test“ stellt eine relativ hohe Hürde dar. Mit Blick auf die Wettbewerbsparameter, – wie zum Beispiel Preis, Produktionsmengen, Qualität, Auswahl oder Innovation – würde im ersten Schritt geprüft, ob die Bestimmung „geeignet“ ist und ob es „weniger einschränkende Alternativen“ gibt. Im zweiten Schritt würde geprüft, ob jede Bestimmung jeweils „die den Wettbewerb am wenigsten einschränkende Alternative“ darstellt, um den betreffenden Nachhaltigkeitsstandard zu erreichen. So wäre eine gemeinsame Werbung weniger wettbe­werbsbeschränkend als die Festlegung von Mindestvo-lumina oder exklusiver Aufkäufer. Oder, ein Preisaufschlag wäre weniger wettbewerbsbeschränkend als Mindestpreise oder Preisabsprachen. Die Kommission hält es für unwahrscheinlich, dass der Wettbewerb ausgeschlossen wird, wenn der gemeinsame Marktanteil der Parteien der Nachhaltigkeitsvereinbarung „nicht mehr als 15 % im Fall einer horizontalen Vereinbarung und 30 % im Fall einer vertikalen Vereinbarung“ beträgt. Liegen bereits eine hohe Marktkonzentration oder vermachtete Märkte vor, „könnte selbst eine kleine Einschränkung des Wettbewerbs durch die Nachhaltigkeitsvereinbarung zu einem Wettbewerbsausschluss führen“. Gleichwohl ist es nicht erforderlich, die Marktabdeckung einer Wettbewerbsbe­schränkung ex-ante zu bewerten.

Wie ist der Artikel 210a aus Erzeugerperspektive zu bewerten?

Nach Auffassung von Erzeuger*innen ermöglicht der Artikel 210a, „erforderliche Preis- und Mengenab-sprachen“ für Ziele aus den Bereichen Nachhaltigkeit und Tierwohl vorzunehmen, um „einer Absenkung der Erzeugerpreise etwas entgegenzusetzen und fairere Preise“ durchzusetzen. Es stimmt, dass Preis- und Mengenabsprachen grundsätzlich möglich sind, wenn sie für das Erreichen des Nachhaltigkeitsstandards „unerlässlich“ sind. Allerdings stellen die Anforderungen bislang eine relativ hohe Hürde dar. Positiv hervorzuheben ist jedoch, dass die Verbraucher*innen nicht angemessen an dem durch die Nachhaltig-keitsvereinbarung entstehenden Gewinn beteiligt werden müssen. Dies ist bei den in punkto Nachhaltig-keit überarbeiteten horizontalen Leitlinien nicht der Fall. Zudem erklärt die EU-Kommission mit Verweis auf ein EuGH-Urteil, dass das Kriterium der „angemes­senen Preise“ für Verbraucher*innen nicht so verstanden werden sollte, „dass Preise so niedrig wie möglich ausfallen sollten“. Dies ist wichtig, weil die Bestimmungen einer Nachhaltigkeitsvereinbarung nicht den fünf Zielen der gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) zuwiderlaufen dürfen (Artikel 39 AEUV).

Es ist ebenso das Ziel der GAP, eine angemessene Lebenshaltung der in der Landwirtschaft tätigen Personen zu gewährleisten. Zu geringe Einkaufpreise der Käufer*innen stehen dem entgegen, wenn diese nicht zumindest die Kosten der Produktion – inklusive der Lohnkosten für Arbeiter*innen – beinhalten oder wenn der landwirtschaftl­iche Betrieb keinen Gewinn erwirtschaften kann. Die Kommission führt in den Leitlinien allerdings nur aus, dass die zuständige Wettbewerbsbehörde bewerten sollte, inwiefern die Nachhaltigkeitsvereinbarung die Lebens­haltung aller landwirtschaftlichen Erzeuger berührt, und nicht allein die Lebenshaltung der an der Vereinbarung beteiligten Erzeuger. Mit Blick auf die Produktions-kosten der beteiligten Erzeuger*innen werden lediglich die „Zusatzkosten“ betrachtet, die durch die Nachhaltigkeitsvereinbarung entstehen. Wenn die Verbraucher*innen jedoch bereit sein sollten, einen höheren Preis für nachhaltige Produkte zu bezahlen, kann sich nach Ansicht der Kommission eine Nachhaltigkeitskooperation erübrigen, da die notwendigen Investitionen durch höhere Preise finanziert werden könnten. Diese Einschätzung könnte sich nachteilig für die potenzielle Inanspruchnahme des Artikels 210a durch die Bio-Branche auswirken.

Exkurs: Höhere Kosten – Höhere Erzeugerpreise

Die Frage, ob ein Wettbewerbspreis eine soziale und ökologische Produktion beispielsweise von Lebensmitteln zulässt, ist bislang nicht Teil von kartellrechtlichen Prüfungen. Zu niedrige Erzeugerpreise gibt es zwar im Handelsrecht – hier spricht man häufig von Dumping, aber nicht innerhalb eines inländischen Marktes bzw. des Binnenmarktes. Es erscheint plausibel, dass eine „angemessene Lebenshaltung der in der Land-wirtschaft tätigen Personen“ gemäß Artikel 39 AEUV eine angemessene Verteilung der Wertschöpfung innerhalb der Lieferkette voraussetzt. Auch sollten Risiken und Kosten entlang der Lieferkette nicht auf Landwirt*innen abgewälzt werden können. Dies legt die EU-Richtlinie 2019/633 nahe. Bei der Einhaltung von neuen privaten oder gesetzlichen Sozial-, Umwelt- oder Tierschutzstandards müssten nicht nur die Zusatzkosten, sondern auch die Betriebskosten betrachtet werden. Andernfalls könnten marktmächtige Käufer*in die entstehenden Zusatzkosten durch Druck auf den bisherigen Erzeugerpreis auf die Landwirt*innen abwälzen. Grundlage für die Berechnung von Erzeugerpreisen in Vertragsbeziehungen könnte die Kosten-Preis-Analyse sein. Diese hat der EuGH in der Entscheidung United Brands (Chiquita-Bananen) bereits anerkannt.

Worum ging es? Die Kommission hatte einen Verstoß gegen Artikel 86 des EWG-Vertrags (heute Artikel 82) beim Vertrieb von erzeugten und eingeführten Bananen festgestellt. Im vorliegenden Fall sollte ein Missbrauch in der Anwendung eines überhöhten Preises bestehen, der in keinem angemessenen Verhältnis zu dem wirtschaftlichen Wert der erbrachten Leistung stand. United Brands wurde unter anderem vorgeworfen, ihren Vertriebshändlern/­Reifereien gegenüber unterschiedliche Preise mit Abweichungen bis zu 138 % angewendet zu haben. UBC und ihre niederländische Tochtergesellschaft erhoben Klage gegen diese Entscheidung. Sie wiesen von sich, überhöhte und diskriminierende Preise angewandt zu haben. Das EuGH kritisierte, dass die Kommission keine Analyse der Kostenstruktur von UBC vorgenommen hatte. „Auch wenn man die nicht unerheblichen und gelegentlich sehr großen Schwierigkeiten bei der Feststellung eines Gestehungspreises in Rechnung stellt…, bietet der Gestehungspreis von Bananen aber keine unüberwindlichen Schwierigkeiten.“ Der EuGH wies hierfür auf eine entsprechende Untersuchung der UNCTAD hin.

Schlussbemerkungen

Nachhaltigkeitsvereinbarungen, welche die Anforderungen von Artikel 210a erfüllen, sind per se nicht verboten. Es ist keine vorherige Zulassung einer staatlichen Behörde notwendig. Nach Artikel 210a Absatz 7 dürfen die nationalen Wettbewerbsbehörden und die Kommission aber nach dem Abschluss oder der Umsetzung einer Nachhaltigkeitsvereinbarung intervenieren, “wenn dies erforderlich ist“, um einen Ausschluss des Wettbewerbs zu verhindern. Privatpersonen können in einem Verfahren vor der zustän-digen Wettbewerbsbehörde anfechten, dass eine Nachhaltigkeitsvereinbarung die Voraussetzungen von Artikel 210a erfüllt, wobei die Beweislast in diesem Fall bei ihnen liegt. Die Kommission weist darauf hin, dass die Leitlinien nicht als Checkliste zu verstehen sind. Jede Nachhaltigkeitsvereinbarung sei in ihrem eigenen wirtschaftlichen und rechtlichen Zusammenhang zu prüfen. Nur der Europäische Gerichtshof könne eine legale Interpretation des Art. 210a vornehmen.

Es spricht einiges dafür, stärker zwischen horizontalen und vertikalen Nachhaltigkeitsvereinbarungen zu unterscheiden. Die kartellrechtlichen Ausnahmen in der GMO belegen, dass die Stärkung der Erzeu-ger*innen in der Lieferkette eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Ebenso erscheint es im Sinne einer GMO-kohärenten Auslegung sinnvoll, die kombinierten Markteile für Milcherzeuger anzupassen. Für eine marktgerechte Anwendung des Artikel 210a für Erzeuger*innen wäre es hilfreich, wenn die EU-Kommission in ihren Leitlinien ausführen könnte, wie ein Abwälzen von höheren Zusatzkosten auf Landwirt*innen verhindert werden kann. Sinnvoll wäre die Entwicklung einer Berechnungsgrundlage für die gesamten Produktionskosten der Erzeuger*innen. Hierbei könnte auf entsprechende Gesetzestexte und Erfahrungen aus Spanien und Frankreich zurückgegriffen werden. Es ist davon auszugehen, dass die EU-Kommission ohnehin im Austausch mit den Mitgliedsstaaten ist.