Soziale Ungleichheit: Ein blinder Fleck im Kartellrecht?

Die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit nimmt zu. Die Reichen werden reicher, die Mittelschicht schrumpft und Menschen mit Einkommen unterhalb der Armutsgrenze kämpfen tagtäglich damit, sich über Wasser zu halten. Der Verteilungsbericht 2022 offenbart, dass die Einkommensungleichheit und die Einkommensarmut in den letzten 30 Jahren zugenommen haben. Fast jeder fünfte Beschäftigte in Deutschland erhält nur einen Niedriglohn, das heißt weniger als 12,50 Euro brutto pro Stunde. Gut 17,3 Millionen Menschen (21 Prozent) sind von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Durch den Preisanstieg bei Lebensmitteln und Energie sind im vergangenen Jahr Milliardäre und Konzerne nach Angaben von Oxfam noch reicher geworden. 81 Prozent des Vermögensanstiegs, der 2020 und 2021 in Deutschland erwirtschaftet wurde, entfiel auf das reichste Prozent der Bevölkerung. Nicht ohne Grund befürchten viele Menschen jetzt, dass die Spaltung der Gesellschaft in Deutschland zunimmt und zu Konflikten führt. Dies deckt sich mit den neuesten Ergebnissen des Konstanzer Ungleichheitsbarometers: 45 Prozent sind der Meinung, die Ungleichheit sei „stark“ angestiegen, und immerhin weitere 23 Prozent, dass sie „etwas“ angestiegen sei.

Exkurs: Staatliche Aufgabe, soziale Ungleichheit zu reduzieren

Es ist möglich, im Kartellrecht den Abbau sozialer Ungleichheiten als Ziel festzuschreiben. Südafrika ist diesbe­züglich ein eindrucksvolles Beispiel. Das Kartellrecht soll die Inklusion und die Streuung von Eigentum, insbe­sondere zugunsten historisch benachteiligter Gruppen fördern und damit zur Erreichung der Staatsziele beitragen. In Deutschland sind die Grundrechte gemäß Artikel 1-19 GG, die den Schutz der Menschenwürde konkretisieren, auch für Bundesbehörden wie das Bundeskartellamt verbindlich. Seit 1994 sind der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen – in Verantwortung für die künftigen Generationen – und seit 2002 der Tierschutz Staatsziele. Bei der Konzentrationskontrolle handelt es sich gemäß Artikel 14 GG um eine Inhalts- und Schranken­bestimmung des Unternehmenseigentums. Das Sozialstaatsprinzip ist im Grundgesetz verankert, es sieht einen sozialen Ausgleich vor und soll soziale Sicherheit gewährleisten. Der Abbau der sozialen Ungleichheit ist kein Staatsziel, aber eine staatliche Aufgabe. Und zwar dann, wenn privates und unternehmerisches Handeln nicht den Erfordernissen der sozialen Gleichheit genügen und die Resultate von Marktergebnissen korrigiert werden müssen. Geht die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinander, nehmen die Fliehkräfte in einer Demokratie zu. Um seiner selbst willen muss der demokratische Verfassungsstaat auf ein Mindestmaß an sozialer Gleichheit achten, diese wahren und verhindern, dass die sozialen Unterschiede unangemessen groß werden.

Marktmacht und soziale Ungleichheit

Wie kann sich die Marktmacht auf die soziale Ungleichheit auswirken? Die kurze Antwort auf die Frage ist: Je mächtiger ein Konzern ist, desto höher sind die Monopolrenditen und desto stärker konzentrieren sich das Kapital und die daraus wachsenden Vermögen. Die Kartellrechtler Ariel Ezrachi et al. beschreiben den Zusammenhang wie folgt: Wenn die Preise steigen und die Arbeitsentgelte stagnieren, werden die Preisaufschläge (Markups) zusammen mit den Profitraten steigen, insbesondere bei den größten Konzernen. Wenn dies in allen Branchen geschieht, sinkt wahrscheinlich die Lohnquote – Anteil der Einkommen der Arbeitnehmer am gesamten Einkom­men der ganzen Bevölkerung. Mit anderen Worten: Gering- und mittelqualifizierte Arbeitnehmer*innen werden systematisch einen kleineren Anteil an den Gewinnen erhalten, während eine kleine Gruppe hochqualifizierter Arbeitnehmer*innen und deren Eigentümer profitieren. Wie sieht die Situation in Deutschland aus? Die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit nimmt zu. Die Lohnquote ist insgesamt seit 1995 gesunken, ändert sich seit 2013 nur mit geringeren Abweichungen nach unten und oben. Die um die Inflationsrate bereinigten realen Nettover­dienste weisen über die Jahre keinen nennenswerten Zuwachs auf und sind in den Jahren 2004-2009 sowie 2022 – sogar gesunken. Die Monopolkommission bestätigt, dass es vor allem große Unternehmen sind, die ihre Preisaufschläge erhöhen.

Market power can be a powerful mechanism for transferring wealth from the many among the working and middle classes to the few belonging to the 1% and 0.1% at the top of the income and wealth distribution.

Lina Khan, Sandeep Vaheesan (2017): Market Power and Inequality

Weniger im Blick als die Lohnquote und die Arbeitsmärkte sind in der internationalen Kartellrechtsszene die Inflation und die strukturellen Abhängigkeiten in Lieferbeziehungen entlang der Wertschöpfungs-kette. Einer weltweiten Umfrage der internationalen Arbeitsorganisation („International Labor Organisation“; ILO) zufolge waren niedrigere Stundenlöhne für Arbeiter*innen zu beobachten, wenn der Lieferant hauptsächlich von einem Anbieter abhängig war oder wenn der Lieferant sehr groß war. Des Weiteren ist die Inflation der „große Ungleichmacher und eine permanente Gefahr für den sozialen Frieden“, schreibt der Wirtschaftsjournalist Hans-Jürgen Jacobs in seinem Buch „Das Monopol im 21. Jahrhundert“. Haushalte mit einem geringen Einkommen sind am stärksten von der Inflation betroffen, wenn die Preise für Lebensmittel und Energie steigen, weil sie einen deutlich höheren Anteil am Konsum haben. In Deutschland liegt seit dem vergangenen Jahr die Teuerung bei Lebensmitteln deutlich über der allgemeinen Inflationsrate. Lademann und Kleczka können nachweisen, dass die marktmächtigen Supermarktketten in der Vergangenheit die Inflation angetrieben haben: Je größer die Konzentration im Lebensmitteleinzelhandel, desto höher die Einzelhandelspreise für Nahrungsmittel usw. in Deutschland im betrachteten Zeitraum 1991-2021.

Ansatz I: Monopole und Oligopole abwenden

Eigentlich ist die Abwehr von hoher Marktkonzentration das genuine Ziel des deutschen Kartellrechts. Eine Re-Orientierung auf dieses langfristige Gesetzesziel ist ein wichtiger Baustein, damit das Kartellrecht zur Redu­zierung der sozialen Ungleichheit beitragen kann. Es geht hier gleichsam um ein „effective enforcement“ im besten Sinne. Das Bundeskartellamt könnte in erster Linie die Marktmacht von Unternehmen anfechten, die der Allgemeinheit einen erheblichen Schaden zufügen. Das heißt, es würde seine Arbeit auf Unternehmen fokussieren, die entweder über eine hohe Marktmacht über einen längeren Zeitraum verfügen oder innerhalb kurzer Zeit einen großen Schaden anrichten. Um die Marktmacht solcher Unternehmen effektiv zu begrenzen, wären u.a. folgende Maßnahmen wichtig (siehe auch hier).

  • Missbrauchskontrolle: Es wäre klarzustellen, dass das Kartellrecht darauf abzielen sollte, konzentrierte Marktstrukturen zu verhindern, um wettbewerbsfeindliche Verhaltensweisen von vornherein auszuschließen (anstatt nur im Nachhinein gegen „schlechtes Verhalten“ vorzugehen). Vorrangig sollten strukturelle Abhilfemaßnahmen ergriffen werden, um die Anreize zu beseitigen, die wettbewerbswidriges Verhalten erst möglich machen. Die Beweislast läge beim Unternehmen mit einer marktbeherrschenden Stellung. Es müsste nachweisen, dass es keine wettbewerbswidrigen Auswirkungen gibt.
  • Fusionskontrolle: Gesetzlich müsste der Vorrang der langfristigen Gesetzesziele – Begrenzung wirtschaftlicher Machtstellung, Abwendung von Monopolen und Oligopolen – gegenüber kurzfristigen Effizienzvorteilen aufgenommen werden. Vermeintliche Effizienzgewinne sollten nicht zur Genehmigung von Fusionen führen, wenn es Belege gibt, die strukturelle Annahmen über konzentrierte Märkte bestätigen. Die Schwellenwerte für die Vermutung einer marktbeherrschenden Stellung müssten deutlich abgesenkt, die Unternehmensgröße gebührend berücksichtigt werden. Killer-Akquisitionen durch Unternehmen in hochkonzentrierten Märkten sollten einem Verbot unterliegen.

Ansatz II: Spezifische Regeln zur Reduzierung sozialer Ungleichheit

In der kartellrechtlichen Diskussion werden mehrere Ansätze diskutiert, um gezielter benachteiligte Gruppen in den Blick zu nehmen. Das heißt, es geht konkret um die Frage „wer“ bzw. „welche Gruppe“ geschädigt würde und „wie“ sich dieser Schaden genau auf ihr Wohlergeben auswirken würde. Hierbei spielen die Bereiche Lebensmittel, Energie, Verkehr und Gesundheit eine besondere Rolle. So sind beispielsweise Lieferanten von Frischeprodukten – Obst, Gemüse, Fleisch, Fisch, Milch(produkte), Wurstwaren – signifikant häufiger von unfairen bzw. missbräuchlichen Handelspraktiken der marktmächtigen Supermarktketten betroffen als andere Lieferanten. Oxfam berichtet von einem unbarmherzigen Preisdruck auf Erdbeer- und Spargelproduzenten, den diese an die Arbeiter*innen auf den Feldern weitergeben. Denkbar wäre hier die Entwicklung einer „Equality Impact Checklist“, die spezifische Fragen und Indikatoren zu Verteilungswirkungen enthält. Ein Indikator könnte beispielsweise die Elastizität des Verbrauchs von verschiedenen Einkommensgruppen sein. Wenn die soziale Ungleichheit vom Bundeskartellamt bei der Auswahl des Sektors bzw. der Fälle stärker priorisiert werden würde, könnte die Behörde dazu beitragen, die soziale Ungleichheit zu reduzieren.

Um das Bundeskartellamt bei der Identifizierung von ungleichheitsrelevanten Fällen zu unterstützen, könnten Organisationen, die Verbraucher*innen mit einem geringen Einkommen oder Erzeuger*innen mit einer geringen Verhandlungsmacht innerhalb von Wertschöpfungsketten vertreten, ein Antragsrecht auf die Einleitung eines Verfahrens des Bundeskartellamts erhalten. Ein Beispiel ist der Fall „Loyalty penalty“ super-complaint der britischen Wettbewerbsbehörde CMA. Darüber hinaus könnte Antragstellern im Kartellrecht ergänzend das Recht eingeräumt werden, eine Untätigkeitsbeschwerde bzw. Untätigkeits-rüge zu erheben, sofern das Bundeskartellamt trotz Vorliegen von Tatbestandsvoraussetzungen keinen Gebrauch von seiner Kompetenz macht. Dies ist ein normales und rechtsbewährtes Mittel gegenüber Gerichten, Anwälten und Behörden. Das Bundeskartellamt könnte auch stärker die Rolle von großen Unternehmen auf Arbeitsmärkten unter die Lupe nehmen. Dies wäre dann sinnvoll, wenn die Marktmacht eingesetzt wird, um die Löhne zu drücken bzw. entsprechende Lohnab­sprachen zu tätigen und wohlmöglich gleichzeitig die Managementgehälter überproportional zu erhöhen. In den USA wurde beispielsweise eine texanische Personalvermittlungsagentur Lohnabsprachen vorgeworfen, um die Löhne von Physiotherapeuten zu drücken.

Ansatz III: Gegen Inflation und unfaire Handelspraktiken vorgehen

Kommen wir zurück auf den großen Ungleichmacher, der eine permanente Gefahr für den sozialen Frieden darstellt: die Inflation. In der 11. GWB-Novelle gibt es zwei Ansatzpunkte, die potenziell Abhilfe bei der durch exzessive Marktmacht angetriebene Inflation bei Lebensmitteln schaffen könnten. Da wäre zunächst die Vorteilsabschöpfung in §34 Absatz 4 GWB. Rupprecht Podszun von der Uni Düsseldorf hält die neue Regelung potenziell für einen „echten game changer“, gerade im Missbrauchsrecht, wo es in Deutschland so gut wie nie finanzielle Sanktionen gebe. Jetzt wird nämlich vermutet, dass der erzielte wirtschaftliche Vorteil eines Kartellrechtsverstoßes ein Prozent der Umsätze im Inland beträgt. Es werden künftig zwei Abschöpfungs­verfahren pro Jahr erwartet, vor allem im Nachgang zu Verwaltungsverfahren. Das Bundeskartellamt könnte also im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens gegen missbräuchliches Verhalten – wie zum Beispiel überteuerte Lebensmittelpreise in Supermärkten – vorgehen. Diese müsste das Bundeskartellamt allerdings erstmal feststellen.

Der Lebensmittelhandel ist jedoch in den letzten Jahren bei der Missbrauchskontrolle unverständlicher-weise sträflich vernachlässigt worden. Der letzte Missbrauchsfall und die letzte Sektoruntersuchung stammen beide aus dem Jahr 2014. Als jetzt die österreichische Wettbewerbsbehörde die Ergebnisse ihrer Sektorunter-suchung veröffentlichte, beeilte sich Andreas Mundt, Präsident des Bundeskartellamts, zu versichern, es gebe wenig Anlass zu glauben, dass die Ergebnisse in Deutschland sehr viel anders ausfallen würden. Dabei ist die Situation in Deutschland nicht mit jener in Österreich zu vergleichen: Seit 2014 ist die ohnehin hohe Marktkonzentration im deutschen Lebensmitteleinzelhandel weiter gestiegen. Die 11. GWB-Novelle sieht zudem neue Eingriffsbe­fugnisse im Anschluss an die Sektoruntersuchung vor, die den Handlungsspielraum des Bundeskartellamts erweitern und eine Sektoruntersuchung im Lebensmittel-handel besonders lohnenswert erscheinen lässt. Neu ist auch, dass die Monopolkommission gemäß § 44 Abs. 4 GWB die Durchführung von Sektoruntersuchungen empfehlen kann. Solche Empfehlungen sind zwar nicht verbindlich, allerdings muss das Bundeskartellamt eine Stellungnahme abgeben, wenn es einer solchen Empfehlung nicht folgt.

Quelle: www.luther-lawfirm.com

Mit Blick auf die 12. GWB-Novelle wäre es zudem hilfreich, wenn unter §19 Absatz 2 GWB konkrete Missbrauchstatbestände als Regelbeispiele aufgeführt werden würden. Zudem könnten die sogenannten schwarzen Handelspraktiken des Agrarorganisationen- und Lieferkettengesetzes (§23 AgrarOLkG) ergänzt werden. Lademann und Kleczka schlagen in ihrer Studie „Marktbeherrschung im Lebensmittel-einzelhandel?“ vor, unter §19 Absatz 2 GWB entweder eine neue Nummer 6 einzuführen, etwa „Praktiken verwendet, die als ‚schwarze‘ Klauseln durch den ersten Abschnitt des ersten Kapitels des dritten Teils des AgrarOLkG untersagt sind“ oder am Ende von Absatz 2 zu ergänzen, etwa: „Verstöße gegen das Verbot ‚schwarzer‘ Klauseln nach dem ersten Abschnitt des ersten Kapitels des dritten Teils des AgrarOLkG stellen i.S.v. Absatz 1 einen Missbrauch von Marktmacht dar“. Podszun und Haucap schlagen als eine Option in ihrem Gutachten „Nachhaltigkeit und Wettbewerb“ vor, den Ausbeutungsmissbrauch zu erweitern. Ein Missbrauch läge demnach beispielsweise vor, wenn die Einkaufspreise „nicht zumindest die Kosten der Produktion beinhalten“ oder „wenn ein marktbeherrschendes Unternehmen seinen Zulieferern nur so geringe Preise zahlt, dass es diesen nicht möglich ist, die eigenen externen Effekte zu internalisieren oder ganz zu vermeiden“. Eine solche Ergänzung wäre ein echter Fortschritt und ein wichtiger Beitrag, um die soziale Ungleichheit zu reduzieren.

Es ist wichtig, soziale Ungleichheit zu reduzieren

Die soziale Unglichheit gefährdet den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie. Noch ist die soziale Ungleichheit weitestgehend ein blinder Fleck im Kartellrecht. Seit ein paar Jahren hat sich der Diskurs jedoch weiterentwickelt und es gibt mehrere Vorschläge, wie das Kartellrecht angepasst werden kann. Es ist möglich, im Kartellrecht den Abbau sozialer Ungleichheiten als Ziel festzuschreiben. Wer einen nachhaltigen Wettbewerb als Grundpfeiler der öko-sozialen Marktwirtschaft etablieren will, darf die soziale Dimension der Nachhaltigkeit nicht ignorieren. „Effektive enforcement“ im besten Sinne ist notwendig, damit Monopole und Oligopole verhindert werden. Der nächste wichtige Schritt ist, den Weg für die Internalisierung der gesellschaftlichen Kosten zu bereiten. Die 12. GWB-Novelle bietet darüber hinaus die Chance, missbräuchliches Verhalten im Lebenshandel stärker zu reglementieren und den Ausbeutungsmissbrauch zu erweitern. Die neuen Befugnisse geben dem Bundeskartellamt bereits jetzt die Möglichkeit, besser gegen überteuerte Lebensmittel­preise vorzugehen. Für die Menschen in Deutsch-land ist dies ein wichtiges Thema, 65 Prozent fürchten sich vor steigenden Lebenshaltungskosten.