Mitte August macht Vize-Präsidentin Kamala Harris Schlagzeilen in den USA. Sie kündigt einen Wirtschaftsplan an, der die Lebenshaltungskosten für Familien senken soll. Nicht ohne Grund, die Lebenshaltungskosten sind seit Corona und mit Beginn des Kriegs in der Ukraine stark gestiegen. Wirtschaftlich benachteiligte Haushalte sind besonders betroffen, auch in Deutschland. Bereits im April 2023 gaben 44 Prozent von befragten Verbraucher*innen an, dass sie bei Lebensmitteln sparen. Die Ernährungsarmut verschärfte sich. Die Preiserhöhung hatte in 2022 und 2023 mit 12,4 Prozent bzw. 13,4 Prozent deutlich über der Gesamtteuerung gelegen. Während es hierzulande keine direkten Maßnahmen gab und das Bundeskartellamt untätig blieb, interessiert mich, was die Politik oder Kartellbehörden in anderen Ländern unternommen haben. Im Fokus: die Lebensmittelkette.
USA: Mehr Fairness ist eine Priorität von Biden
Am 5. Juli 2021 unterzeichnete Präsident Biden eine Executive Order, um ressortübergreifend den Wettbewerb zu fördern („whole government approach“). Um niedrigere Lebensmittelpreise für Verbraucher*innen und fairere Preise für Landwirt*innen zu erzielen, hat das USDA 30 Maßnahmen ergriffen. Darunter zum Beispiel:
- Reformen des Packers and Stockyards Act (z.B. Definition von „unfair“, transparente Grundvergütung, Schutz vor Vergeltung). Das Gesetz schützt tierhaltende Betriebe, Verbraucher*innen und kleine Verarbeiter vor marktmächtigen Fleisch- und Geflügelkonzernen;
- eine verbesserte Herkunftskennzeichnung und Untersuchungen im Düngemittelmarkt und im Lebensmitteleinzelhandel;
- ein Programm zur Förderung einer resilienten Ernährungssysteminfrastruktur, das mit 420 Mio. US$ insbesondere kleinere Betriebe und Unternehmen im Bereich der Lebensmittelverarbeitung fördert.
Ende Dezember 2023 wurden neue Fusions-Leitlinien veröffentlicht. Im Februar 2024 verbot die FTC die Übernahme der Supermarktkette Albertsons durch Kroger. Sie veröffentlichte im März 2024 einen Bericht zu gestörten Lebensmittelketten im Zuge der Corona-Pandemie. Im Mai 2024 fand im Senat ein Hearing zu Lebensmittelpreisen und Marktkonzentration statt. Die FTC plant den Robinson-Patman Act wiederzubeleben, der kleinere Unternehmen vor diskriminierender Preissetzung schützt. Der Ausgang der FTC-Untersuchung gegen Amazon ist noch offen, sie könnte im besten Fall damit enden, die Marktmacht von Amazon zu brechen. Vize-Präsidentin Harris kündigte an, das erste bundesweite Verbot der Preisabzocke bei Lebensmitteln und neue Regeln einzuführen, damit große Konzerne nicht exzessive Gewinne auf Kosten der Verbraucher*innen erzielen können. Von Preisabzocke wird gesprochen, wenn Preise und Gewinnspannen als unangemessen hoch angesehen werden (oder höher sind, als man in einem wettbewerblich funktionierenden Markt erwarten würde). In einem offenen Brief fordern 40 Kongressabgeordnete – unterstützt von mehreren Organisationen – Biden auf, seine Exekutivmacht zu nutzen, um die Lebensmittelpreise zu senken.
Kanada: Gute Empfehlungen aus dem Parlament
Der Ständige Agri-Food Ausschuss des Unterhauses hat im Juni 2023 seinen Bericht zur Lebensmittel-inflation mit 13 Empfehlungen veröffentlicht. Die Abgeordneten wollen ebenso wie in den USA einen „whole government approach“ einführen und dafür ein Lieferkettenbüro einrichten. Die Wettbewerbsbehörde arbeitet an einer Marktstudie, um wettbewerbsfördernde Maßnahmen zu identifizieren, die hohe Lebensmittelpreise bekämpfen. Wenn die Studie ergeben sollte, dass die Super-marktketten exzessive Gewinne erzielen, soll die kanadische Regierung eine Übergewinnsteuer für große, preisbestimmende Konzerne in Erwägung ziehen, so der Ständige Ausschuss. Während der Anhörung äußerten einige ihre Unzufriedenheit mit der Arbeit der Kartellbehörde, mehrere verwiesen positiv auf die FTC. Allerdings hat die Kartellbehörde in Kanada bislang auch nicht wie das Bundeskartellamt das Recht, Auskünfte und Unterlagen von Unternehmen und Unternehmensvereinigungen verlangen zu können. Empfohlen wird darüber hinaus, die Einrichtung einer Preisbeobachtungsstelle nach dem Vorbild des französischen „Observatoire de la formation des prix et des marges des produits alimentaires“ zu prüfen. Die National Farmers Union (NFU) lobt den Bericht und belegt anhand von Zahlen, dass die
Lücke zwischen Verbraucher- und Erzeugerpreisen immer weiter auseinanderklafft. Als Beispiele sind Brot, Cornflakes, Schweinespeck und Eier aufgeführt.
Neuseeland: Die OECD bezweifelt, dass politische Maßnahmen ausreichen
Mitte November 2020 beauftragt die Regierung die Kartellbehörde mit einer Marktstudie zum Lebensmitteleinzelhandel inkl. der Preis- und Einkaufspolitik der großen Supermarktketten. In Neuseeland gibt es praktisch ein Duopol, das bereits jahrelang mehr als 90 Prozent des Lebensmittelmarktes kontrolliert. Auch die OECD merkt kritisch an, dass die beiden Supermarktketten infolgedessen von den Verbraucher*innen höhere Preise verlangen (Oligopolmacht) und ihre Nachfragemacht (Oligopson) ausnutzen können, indem sie Kosten und Risiken auf Lieferanten abwälzen und ihnen mit Auslistung drohen. Nach der Marktstudie wurde im Juli 2023 eine Reform in Kraft gesetzt. Sie führt eine neue Regulierungsbehörde ein („Grocery Commissioner“), verbessert für unabhängige Einzelhändler den Zugang zum Großhandel und führt einen verbindlichen Verhaltenskodex wie in Großbritannien ein.
Die OECD bezweifelt, dass diese Maßnahmen ausreichen werden. Strengere Maßnahmen könnten sich als gerechtfertigt erweisen, seien aber aufwändig und komplex. Zum Beispiel ein Aufbrechen des Duopols durch einen erzwungenen Verkauf von Marken oder eine Trennung der Groß- und Einzelhandelssparten bzw. der vorgelagerten Erzeuger und Hersteller, die ihnen gehören, Eine Kosten-Nutzen-Analyse, die von der Regierung in Auftrag gegeben wurde, hätte ergeben, dass die Gesamtauswirkungen der Veräußerung ungewiss seien und möglicherweise zu Nettovorteilen oder Nettoverlusten führen würden. Diese Analyse sollte gemäß OECD weiterentwickelt und verfeinert werden und könnte in Ermangelung einer messbaren Verbesserung verwendet werden. Die Kartellbehörde selbst lehnt eine Entflechtung ab. Unterstützung erhält die OECD von Monopoly Watch. Sie schlagen vor, Woolworths NZ in zwei Teile aufzuteilen (durch Rückabwicklung der Fusion von 2005) und Foodstuffs in Nord und Süd. Erst durch eine strukturelle Trennung könnte wieder ein funktionierender Markt entstehen. Voraussetzung sei, dass mehr regionale Konzentrationsanalysen vorlägen.
Belgien will die Kontrolle der Lebensmittelketten verschärfen
Am 8. März 2024 wurde ein Gesetzentwurf eingebracht, um die Lebensmittelkette stärker zu kontrollieren. In Belgien gibt es seit 2009 eine Preisbeobachtungsstelle. Nun wird vorgeschlagen, dass diese Stelle Anfragen von Berufsverbänden und Verbraucherorganisationen zukünftig prüfen muss und ggf. einen Bericht an den Wirtschaftsminister und die Kartellbehörde übermittelt. Der König soll für sechs Monate preisliche Maßnahmen ergreifen können, 1) um einen „schweren, unmittelbaren und schwer zu behebenden Schaden abzuwenden und um Situationen zu vermeiden, die 2) eine angemessene Entlohnung innerhalb der Lebensmittelkette oder 3) die Kaufkraft der Verbraucher*innen beeinträchtigen oder 4) dem allgemeinen wirtschaftlichen Interesse schaden.
Teile vom französischen Lebensmittelkettengesetz EGalim 1 (30.10.2018) und EGalim 2 (18.10.2021) sollen ins belgische Recht übertragen werden. Die Lieferanten können sich in Zukunft auf die Studien und Veröffentlichungen der Preisbeobachtungsstelle stützen, wenn sie ihre Preise verhandeln. Lieferanten haben zudem das Recht, zuerst einen Preis vorzuschlagen und einen schriftlichen Vertrag zu erhalten, der mindestens ein Jahr dauert. Missachtungen dieser Rechte des Lieferanten sollen in Zukunft mit Bußgeldern in Höhe von zwei Prozent des Umsatzes geahndet werden können.
Die Liste der verbotenen Handelspraktiken wird um ein Verbot erweitert. Zukünftig dürfen Käufer von ihren Lieferanten nicht verlangen, ihre Agrarprodukte und Lebensmittel mit Verlust zu verkaufen. Die Liste der „grauen Handelspraktiken“ wird erweitert. Der Verkauf von Angeboten „1 und 1 gratis“ sowie von „das zweite mit 50 Prozent Rabatt“ würden keine gerechte Entlohnung der Lieferanten ermöglichen. Graue Handelspraktiken sind gemäß der EU-Richtlinie zu unlauteren Handelspraktiken verboten, wenn sie nicht zuvor klar und eindeutig zwischen Käufer und Lieferanten vereinbart wurden.
Australien: Der Gewerkschaftsbund macht Preisabzocke zum Thema
In Australien machte der Gewerkschaftsbund ACTU im Januar 2024 Druck auf die Politik. Er informierte den Finanzminister vorab über ihre Studie „Preisabzocke und unfaire Praktiken bei der Preissetzung“ und ihre Forderung nach einer Untersuchung der Preise im Lebensmittelhandel, Die Folge: Die Regierung beauftragte die Kartellbehörde mit einer Untersuchung der Supermarktketten, die letzte zur Lebensmittelbranche war schon aus dem Jahr 2008. Bis Anfang April 2024 konnten alle Interessierten eine Stellungnahme abgeben und auf die Leitfragen der Kartellbehörde antworten. Die Ergebnisse der Untersuchung sollen am 28.2.2025 vorliegen. Die zwei größten Supermarktketten Woolworths und Coles haben einen Marktanteil von 65 Prozent, gefolgt von Aldi mit 10 Prozent und Metcash mit 7 Prozent.
„Die Supermarktpreise steigen wie Raketen und fallen wie Federn“
Im ATUC-Bericht werden zwei Probleme benannt: 1) Die Supermarktketten geben steigende Erzeugerpreise schnell und fallende Erzeugerpreise langsam an die Verbraucher*innen weiter. Aufgrund ihrer Marktmacht können die Supermarktketten die Preise beim Einkauf und Verkauf von Lebensmitteln setzen. 2) Die Landwirte haben oft nur einen begrenzten Einblick in die Endpreise und die Margen, die von Verarbeitern und Supermarktketten aufgeschlagen werden. Ohne dieses Wissen sind sie benachteiligt und können nicht effektiv faire Preise verhandeln. Verbraucherorganisationen und Regulierungsbehörden fehlen diese Informationen, um gegen unfaire Praktiken im Markt vorgehen zu können. Die Einkäufer der Supermarktketten haben nahezu perfekte Informationen, sie können die Preisunterschiede ausnutzen. Landwirte können es nicht. Es ist nahezu unmöglich für sie zu wissen, ob ihr Preis fair ist oder nicht. Verbraucher*innen sind höheren Preisen ausgesetzt, sie können die Kosten- und Preisstrukturen nicht durchschauen. In Australien sind für ganze 42 Prozent der befragten Haushalte, die steigenden Lebensmittelkosten der größte finanzielle Stressfaktor.
Spanien senkt die Mehrwertsteuer für Lebensmittel
Seit dem 1. Januar 2023 hat die Regierung die Mehrwertsteuer für Lebensmittel, die bereits dem ermäßigten Steuersatz von 4 Prozent unterliegen, abgeschafft und die Mehrwertsteuer für Öle, einschließlich Olivenöl und Teigwaren, von 10 Prozent auf 5 Prozent abgesenkt. Am 25. Juni 2024 verlängerte der Ministerrat die Maßnahme auf das ganze Jahr und senkte den Mehrwertsteuersatz für Olivenöl auf null. Der ermäßigte Steuersatz von 4 Prozent gilt für Brot, Mehl, Milchprodukte, Eier, Obst, Gemüse, Hülsenfrüchte und Frühstücksflocken. Die Kartellbehörde hat im Auftrag der Regierung untersucht, ob der Lebensmitteleinzelhandel die Mehrwertsteuersenkung auch an die Verbraucher*innen weitergegeben hat. Gemäß der im Juli 2023 veröffentlichten Studie gab es keine systematischen Hinweise, dass die Preise an die Verbraucher*innen nicht weitergegeben wurden, unabhängig wie hoch die regionalen Märkte konzentriert waren. Im Juli 2024 kritisierten einige Verbraucherverbände, dass die Supermarktketten nach der Verlängerung der Abschaffung bzw. Ermäßigung der Mehrwertsteuer die Preise erhöht hätten. Der für den Verbraucherschutz zuständige Minister Bustinduy hat eine Untersuchung in der Lebensmittelkette eingeleitet. Es sei inakzeptabel, dass es in Spanien Landwirte gebe, die unter ihren Produktionskosten verkauften, während sich gleichzeitig Familien kein Olivenöl mehr leisten könnten.
Das Verbot des Einkaufs unter Produktionskosten
In Spanien gibt es seit Dezember 2021 ein gesetzliches Verbot des Einkaufs unter Produktionskosten.
Der Oberste Gerichtshof bestätigt am 26. Juni 2024, dass dieses Verbot aus europarechtlicher und verfassungsrechtlicher Sicht verhältnismäßig ist. Er betont, dass auch unter dem Gesichtspunkt der verfassungsrechtlich garantierten unternehmerischen Freiheit nicht davon ausgegangen werden kann, dass die fragliche Maßnahme mit Blick auf das verfolgte Ziel unzumutbar und unangemessen ist. Die Verpflichtung, dass der Preis die tatsächlichen Produktionskosten decken muss, verfolge das legitime Ziel, unlautere Praktiken zum Nachteil des schwächsten Glieds der Kette, der Erzeuger, zu verhindern. Daher sei das Verbot eine geeignete Maßnahme, um ihre Verhandlungsmacht zu stärken, eine echte Verhand-lungsfreiheit und einen wirksamen Wettbewerb zu erreichen. Die Freiheit der Preisverhandlung werde einschränkt, aber nicht ausschaltet, um das Funktionieren der Lebensmittelkette zu verbessern. Letzt-endlich sei das Ziel, einen angemessenen Lebensstandard für die Milcherzeuger zu erreichen. Ziele, die sowohl durch europäisches Recht als auch durch den verfassungsrechtlichen Rahmen vollständig geschützt seien. Im Berufungsverfahren hatte der Milchindustrieverband FeNIL gegen die Bauernorganisationen COAG, UPA und den katalonischen Bauernverband geklagt.
Dieses Urteil des Obersten Gerichtshofs ist nicht nur ein wichtiger Erfolg für Landwirt*innen in Spanien. Es ist auch wegweisend für Brüssel und alle EU-Mitgliedsstaaten.
Das 2021 geänderte Lebensmittelkettengesetz funktioniert, die Preise der Landwirte steigen, erklärt Landwirtschaftsminister Planas. In Zukunft soll das Gesetz noch stärker überwacht werden. Es soll mehr Personal, mehr Inspektionen, mehr Untersuchungen geben. Dies hatte der Präsident Sanchez bereits angekündigt. Die Ombudsstelle AICA soll in Zukunft in eine staatliche Behörde mit einer gestärkten Struktur umgewandelt werden. Ihr Schwerpunkt wird 2024 auf Preisänderungen in Form von nicht zuvor vereinbarten Rabatten und auf Auftragsstornierungen liegen. Die AICA hatte im Jahr 2023 2.371 Lieferbeziehungen untersucht und 382 Sanktionen verhängt. Das sind 59,4 % bzw. 40,4 % mehr als im Vorjahr. 48 Prozent der Sanktionen beziehen sich auf die Nichteinhaltung von Zahlungszielen, vor allem im Großhandel. Seit dem 30. Juni 2023 gibt es auch die Pflicht, schriftliche Verträge mit Landwirten und Erzeugergemeinschaften zu registrieren. Das Register ist zu einem „entscheidenden Instrument“ für die Kontrolltätigkeit der AICA geworden.
Europäische Union: Studien und Untersuchungen in mehreren Ländern
Anfang 2022 stiegen die Lebensmittelpreise in der EU rasant an. Ihren Höhepunkt erreichte die Inflationsrate für Lebensmittel mit gut 19 Prozent im März 2023, betrug aber auch schon im Oktober 2022 18 Prozent. Die hohe Lebensmittelinflation in den letzten Jahren hat zu Studien und Unter-suchungen in 16 europäischen Ländern geführt.
- Sektoruntersuchungen: Österreich, Kroatien, Tschechien, Litauen, Slowakei. Slowenien.
- Marktuntersuchungen zum Lebensmitteleinzelhandel: Ungarn, Irland, Luxemburg, Norwegen, Island, Schweden
- Produktstudien: Dänemark (Butter, Eier), Lettland (Milchprodukte)
- Studien über Preisspannen: Österreich, Finnland, Litauen, Niederlande, Slowakei, Norwegen.
- Studie zur Marktkonzentration in Polen: Sie startete Jahr 2020, d.h. vor der aufsehenerregenden Inflation der letzten Jahre.
In Deutschland kündigte die Monopolkommission im Februar 2024 an, die Lebensmittellieferkette gründlich zu untersuchen. Dabei will sie auch die Möglichkeit abwägen, gemäß § 44 Abs. 4 GWB eine Sektoruntersuchung durch das Bundeskartellamt zu empfehlen. Die Ergebnisse sollen im Frühjahr 2025 vorliegen.
Abschließende Bemerkungen
Die Lebensmittelpreise und die Energiepreise haben am meisten die Inflation angetrieben. Während die Inflation bei Lebensmitteln EU-weit bis zu 19 Prozent betrug, erreichte sie im Oktober 2022 beispielsweise in Sri Lanka 85 Prozent und in der Türkei 99 Prozent. Die Zahl der Menschen, die im globalen Süden Hunger leiden, sind 2023 im Vergleich zu 2019 um 152 Millionen gestiegen. Hierzulande müssen wirtschaftlich benachteiligte Haushalte bei Lebensmitteln sparen. Die Ernährungsarmut hat sich verschärft. In den Ländern mit hoher Marktkonzentration im Lebensmitteleinzelhandel wird verstärkt die Rolle der Supermarktketten bei der Lebensmittelinflation zu Recht diskutiert. Die EU-Kommission sollte die Ergebnisse der Länderstudien zusammenfassen und ggf. ergänzen.
Bei Untersuchungen – ob von EU-Kommission, Monopolkommission oder Kartellbehörden – müssten folgende Fragen berücksichtigt werden: Wie haben sich geänderte Kosten in der Lebensmittelkette auf die Supermarktpreise ausgewirkt? Aktuell und in den letzten 10 Jahren? Wie haben sich die Profite und Margen der Supermarktketten und der Lebensmittelkonzerne in den letzten 10 Jahren verändert und was waren die Ursachen? Wie wird Nachfragemacht ausgeübt, welche Auswirkungen hat sie? Wie beeinflusst die vertikale Integration den Wettbewerb und die Preissetzung? Sind die Supermarktpreise, -profite und -margen gestiegen? Wenn ja, sind sie höher als in einem wettbewerblich funktionierenden Markt zu erwarten wäre? Es geht hierbei um die Angebots- UND die Nachfragemacht. Politisch und kartellrechtlich stellt sich die Frage, inwieweit die Preispolitik auf Einkaufsseite einer gerechten Entlohnung von Landwirt*innen, Beschäftigten in der Ernährungsindustrie und Verarbeitern entgegensteht.
Vielfach wird die schlechte Datenlage kritisiert. Entweder gibt es die Daten gar nicht oder sie sind zu alt. In nur wenigen Ländern gibt es bereits eine Preisbeobachtungsstelle. Das französische „Observatoire de la formation des prix et des marges des produits alimentaires“ gilt vielen als Vorbild, weil es auch die Margen untersucht. Das Machtungleichgewicht betrifft nicht nur die Preise und Margen, sondern auch die zur Verfügung stehenden Informationen. Die Supermarktketten haben nahezu perfekte Informationen, auch weil sie selbst über landwirtschaftliche Betriebe, verarbeitende Unternehmen oder Importunternehmen verfügen („vertikale Integration“). Der australische Gewerkschaftsbund ATUC bringt es auf den Punkt: Landwirt*innen können nur effektiv faire Preise verhandeln, wenn sie die Margen kennen. Um gegen unfaire Praktiken im Markt vorgehen zu können, brauchen auch die Politik, Regulierungsbehörden und Verbraucherorganisationen diese Informationen.
Die Länderbeispiele zeigen, dass verbindliche Regeln für Sektoren bzw. die Lebensmittelkette und das Kartellrecht sich ergänzen. Es geht hier nicht um ein entweder oder. Um die Inflation kurz- und mittelfristig zu bekämpfen, kann das Kartellrecht eine komplementäre Rolle spielen, so Ioannis Lianos, ein europaweit bekannter Kartellrechtler. Agrar- bzw. Lebensmittelpreise und Energiepreise sind systemrelevante Preise. Sie wirken sich direkt auf Haushalte und Unternehmen und indirekt auf andere Preise aus. In diesem Sinne, so Klooster und Weber, haben Preiserhöhungen in systemrelevanten Sektoren erhebliche externe Effekte auf die monetäre und makroökonomische Stabilität. Sie schlagen deswegen im Agrarbereich eine strategische Reserve zur Preisstabilisierung vor. Diese könnte durch eine Kombination von physischen und virtuellen Lagern – wie von Torero und von Braun 2009 vorgeschlagen – umgesetzt werden.